Minnesota Starvation Experiment: Set Point & Metabolische Adaptation - Johannes Kwella

Minnesota Starvation Experiment: Set Point & Metabolische Adaptation

Stell dir vor, wir würden eineiige Zwillinge untersuchen. Sie treiben gleich viel Sport, mit demselben Volumen und Intensität. Beide bevorzugen dieselben Speisen.

Der einzige Unterschied ist nur, dass ein Zwilling täglich 2000 Kalorien zu sich nimmt und der andere 3500. Dabei haben beide dasselbe Gewicht und halten es – sie nehmen weder zu noch ab.

Unmöglich? Sehr wohl möglich! (Spoiler: Der erste Zwilling hat wahrscheinlich einige Diäten hinter sich).

Ich könnte sagen, dass wir keine Maschinen sind, doch wir sind tatsächlich Maschinen, wenn auch von sehr komplexer Art. Daher greift bei uns die einfache Arithmetik oft überhaupt nicht.

Wir müssten annehmen, dass wenn der erste Zwilling 3500 Kalorien zu sich nimmt und sein Gewicht hält, sein Bruder mit 2000 Kalorien abnehmen müsste. Warum halten sie dann dasselbe Gewicht?

Inhaltsverzeichnis

Calories In, Calories Out

Betrachten wir die Calories-In-Calories-Out Waage. Wenn sie bei beiden Zwillingen ausgeglichen ist und auf der Cals-In-Seite unterschiedliche Werte stehen, dann müssen auch auf der Cals-Out-Seite unterschiedliche Werte stehen.

Die physische Aktivität ist bei beiden Brüdern gleich, also können wir auch sie als Faktor streichen. Was übrig bleibt ist der Grundumsatz – und dieser Wert ist extrem variabel.

Es ist schon lange bekannt, dass der Körper einen gewissen metabolischen Set-Point, also einen Soll-Wert für das Gewicht hat. Wir können durch Sport und Ernährung einen neuen Ist-Wert erreichen. Doch dann versucht der Körper den vorherigen Soll-Wert wieder herzustellen und zwar durch die Anpassung des Grundumsatzes.

Das Minnesota Starvation Experiment

Eines der bekanntesten Experimente, die diese Auswirkungen feststellten, war das Minnesota Strarvation Experiment von 1944, durchgeführt von Ancel Keys. Zu dieser Zeit tobte bekanntlich der zweite Weltkrieg und weltweit war der Hunger und das Verhungern ein großes Thema.

Ancel Keys wollte in diesem Experiment die physischen und psychischen Auswirkungen der Mangelernährung untersuchen und wählte dafür 36 Personen aus über 200 Freiwilligen aus. Die Ergebnisse der Studie sollten sich als schockierend erweisen.

Aufbau der Studie

Die Studie dauerte insgesamt mehr als ein Jahr und wurde in 4 Phasen aufgeteilt. In den ersten 12 Wochen durften die Teilnehmer sich ganz normal ernähren, im Grunde genommen, wie auch vor der Studie, mit dem Unterschied, dass ihre Mahlzeiten abgewogen und standardisiert waren. In dieser Phase bekamen sie etwa 3200 Kalorien täglich.

Die zweite Phase wurde die “Halb-Hunger-Phase” (Semi-Starvation Period) genannt. In dieser 24 Wochen langer Phase erhielten die Teilnehmer etwa die Hälfte der Essensmenge aus der Kontrollphase. Etwa 1560 Kalorien täglich standen den Teilnehmern täglich zur Verfügung, hauptsächlich aus Lebensmittel, die im Nachkriegseuropa verbreitet waren – Rüben, Kartoffeln, Brot und Nudeln.

Darauf folgte die 12-wöchige Rehabilitationsphase, in der die Teilnehmer wiederum in Gruppen aufgeteilt wurden und respektive 400, 800, 1200, oder 1600 Kalorien mehr, als in der “Halb-Hunger-Phase” erhielten.

Zum Schluss folgte eine achtwöchige Phase von unbeschränkter Kalorienzufuhr, wobei die aufgenommenen Kalorien pro Teilnehmer verzeichnet wurden.

Hier möchte ich noch einmal 3 Punkte besonders hervorheben. Erstens, die Teilnehmer bekamen nahezu ausschließlich Kohlenhydrate als Nahrung. Dadurch wurde die Standardernährung der Kriegs- und Nachkriegszeit simuliert. Zweitens, die Teilnehmer haben zu keinem Zeitpunkt im klassischen Sinne gehungert, das heißt ihre Kalorienzufuhr war an keinem Tag gleich Null. Sie aßen “nur” die Hälfte. Drittens, die Teilnehmer waren zu Beginn der Studie relativ schlank und hatten nicht mit Übergewicht zu kämpfen. Nun zu den Auswirkungen des Experiments.

Die Teilnehmer:

  • Verloren sehr viel Fett- und gleichzeitig Muskelmasse (etwa 10% Kraftverlust)
  • Ihr Ruheenergieumsatz ist in den Keller gestürzt
  • Hatten Mühe sich warm zu halten, trugen im Hochsommer Jacken und schliefen stets unter dicken Decken – und froren dennoch
  • Verloren etwa 20% an Herzvolumen
  • Erlebten einen Abfall der Herzfrequenz von 55 auf 35 Schläge pro Minute
  • Verloren etwa die Hälfte ihrer Ausdauer
  • Erlebten stark verlangsamte Reflexe und Konzentrationsprobleme
  • Verloren jegliches Interesse an Sex, während sich die Hodengröße reduzierte
  • Wurden sehr reizbar und aggressiv
  • Zogen sich sozial zurück und isolierten sich
  • Verloren Haare
  • Kämpften mit Kopf-, Bauch- und Gliederschmerzen, Sehstörungen, Tinnitus, Schlafstörungen, Taubheit in den Gliedmaßen und Schwindel

Interessant ist, dass die Teilnehmer nicht die “Halb-Hunger-Phase”, sondern die Rehabilitationsphase psychologisch als besonders belastend empfanden. Zwei Teilnehmer mussten aus der Studie entfernt werden, da einer von ihnen Lebensmittel stahl und ein anderer aus dem Mülleimer gegessen hatte.

Im Laufe des Experiment häuften sich Fälle von Selbstverstümmelung. Einer der Teilnehmer hackte sich mit der Axt drei Finger ab und konnte hinterher nicht mehr angeben, ob er das versehentlich, oder mit voller Absicht getan hatte.

Das Experiment war der blanke Horror. Ancel Keys schrieb an seine Frau: “Was tue ich diesen jungen Männern nur an? Ich hatte keine Vorstellung davon, dass es so schwer sein würde.”

Folgen des Experiments für die Teilnehmer

Was ist nach dem Experiment passiert? Die Teilnehmer waren bereits vor dem Experiment nicht übergewichtig, verloren jedoch viel Gewicht. In der Phase der unbeschränkten Kalorienzufuhr nahmen sie wieder rapide zu und manche Teilnehmer nahmen sogar etwa 10% mehr zu, als sie vor dem Experiment gewogen haben.

In den anschließenden 6 Monaten pendelte sich das Gewicht der meisten Teilnehmer auf dem selben Gewicht, wie vor dem Experiment ein. Ihre Körper haben wieder ihre individuellen Set-Points erreicht. Ihr Grundumsatz ist jedoch in der Zwischenzeit in den Keller gerauscht.

Der Grundumsatz besteht aus drei wesentlichen Bestandteilen:

  • Physiologische Prozesse: Aktivität des Nervensystem, Auf- und Abbau von Hormonen, Nährstoffen, Enzymen und Strukturproteinen aus denen die Zellen und Geweben bestehen, Herzschlag, unwillkürliche Bewegung der glatten Muskulatur in den Blutgefäßen und Magen-Darm-Trakt und Aufrechterhaltung des Membranpotentials aller Zellen.
  • Thermoregulation: Abkühlen des Körpers durch Schweißproduktion, oder Erwärmen durch das braune Fettgewebe und Muskelaktivität, bis hin zum Zittern. Die Thermoregulation kann bis zu 50% des Grundumsatzes ausmachen.
  • Basale muskuläre Aktivität: Unwillkürliche, nicht zielgerichtete Bewegungen, wie das Kratzen, Gestikulieren, Tendenz zum Stehen, statt Sitzen, oder Liegen, das “Herumzappeln” und sogar Mikrobewegungen, wie Blinzeln, Mimik und muskulärer Tonus (wie entspannt/gespannt die Muskulatur im Schnitt über den Tag verteilt ist).

Wie wir in der Beschreibung des Auswirkungen des Minnesota Starvation Experiments sehen können, fuhr der Körper während der Phase des Kaloriendefizits alle diese Parameter stark herunter.

Die physiologischen Prozesse nahmen ab, was man an der verminderten Hormonproduktion (Schrumpfhoden, fallende, bis nicht-existente Libido), verminderten Herzvolumen und Herzfrequenz und Haarverlust (wahrscheinlich durch vermindertes Haarwachstum) sieht.

Die Thermoregulation nahm stark ab, so dass die Teilnehmer sogar bei hohen Außentemperaturen gefroren haben, statt zu schwitzen. Das Nervensystem fuhr die Aktivität ebenfalls massiv zurück. Das führte zu Konzentrationsproblemen und verlangsamten Reflexen.

Das Nervensystem war ebenso nicht mehr in der Lage, soziale Interaktionen korrekt zu verarbeiten und einzuschätzen. Das führte einerseits zu Reizbarkeit und Aggressivität und andererseits zum sozialen Rückzug, um diese Stressfaktoren zu vermeiden.

Die basale muskuläre Aktivität wurde in der Studie nicht direkt gemessen. Es wurde jedoch bei vielen Teilnehmern Apathie und Bewegungslosigkeit verzeichnet.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass der Körper bei langanhaltender Kalorieneinschränkung und Fettverlust den Grundumsatz senkt, um auf den Ursprungszustand wiederherzustellen – er strebt den vorherigen Set-Point an.

Die Leibel Studie

Rudolph Leibel hat in seiner Studie von 1995 diesen Effekt genauer untersucht. Er kam zu dem Ergebnis, dass die Wiederherstellung des Gewichts in beide Richtungen funktioniert.

Er ließ die Teilnehmer der Studie 10-20% des Gewichts verlieren, oder 10% zunehmen und maß den Grundumsatz. Bei Gewichtsverlust verringerte der Körper den Grundumsatz und bei Gewichtszunahme erhöhte er sich.

Anschließend kamen die Teilnehmer zu ihrem alten Gewicht zurück und der Set-Point war wieder erreicht, egal ob sie zu- oder abgenommen haben. Warum verhält sich unser Körper so? Es gehört nun mal zu der Überlebensstrategie.

Die Balance im energetischen Sparen und Nutzen

Möglicherweise hast du schon mal ein Strategie-Videospiel, wie “Age of Empires”, “Civilisation”, oder “Warcraft” gespielt. Das Prinzip ist stets sehr ähnlich.

Du bist von Gegnern und Ressourcen umgeben. Damit du das Spiel gewinnst, musst du die gesamte Karte erobern, indem du alle Gegner besiegst.

Zu diesem Zweck musst du Kampfeinheiten und ganze Armeen ausbilden und um das tun zu können, musst zu zuerst Ressourcen sammeln und deine Basis ausbauen. Ein wesentlicher Teil deiner Strategie ist die richtige Balance zwischen Kampf und der Sammlung der Ressourcen.

Wenn du dich zu sehr auf die Ressourcen fokussierst, wirst du vom Gegner überrannt und kannst dich nicht verteidigen. Falls du dich zu sehr auf den Kampf fokussierst, wirst du unter Umständen im späteren Spielverlauf nicht genug Ressourcen haben und ebenfalls besiegt werden.

Das Strategiespiel deines Körpers

Genau dasselbe Spiel spielt dein Körper. Wenn er Energie bekommt, beispielsweise in Form eines Avocado-Toastbrots, dann muss er eine wichtige Entscheidung treffen.

Welcher Anteil des aufgenommenen Energie darf ins Lager für die spätere Verwendung wandern? Welcher Anteil soll in Form von Energie für die Körperwärme, Bewegung, Aktivität des Nervensystems verbraucht werden, damit du arbeiten, kämpfen, erobern, oder anderweitig neue Ressourcen einholen kannst?

Jeder, der so ein strategisches Videospiel gespielt hat, weiß, dass die Ressourcen auf der Karte begrenzt sind. Das Horten der Ressourcen macht immer dann mehr Sinn, wenn diese Ressourcen in der Nähe der Basis im Überfluss vorhanden sind.

Dann produziert man mehr Arbeiter, oder Erntemaschinen, die die Ressourcen möglichst schnell abbauen und in unseren Lagern horten, bevor der Gegner die Chance hat, diese Ressourcen abzubauen. Auch diese Taktik kennt unser Körper nur zu gut.

Wir sind von Essen umgeben. Nahrung ist so günstig und vielfältig wie nie zuvor und wir leben in einem Paradies für jeden, der sich zum Ziel gesetzt hat, möglichst viele Ressourcen zu horten – in Form von Körperfett. Doch von Essen umgeben zu sein ist nur die halbe Miete….

Im nächsten Artikel gehen wir der Frage nach, welche weiteren Faktoren daran beteiligt sind, dass wir richtig schnell zunehmen können und, warum das Abnehmen für die meisten von uns so ein Kampf ist!

Bis dahin!

2 Kommentare zu „Minnesota Starvation Experiment: Set Point & Metabolische Adaptation“

  1. Moin, moin,
    ist wieder ein interessanter Artikel und ich wollte schon weiterlesen☺.
    Nun denn, Set-Point und Minnesota Experiment sind für mich nichts unbekanntes, aber lässt sich der Set-Point verändern?
    Ich meine mal gelesen zu haben, dass das funktioniert. In beide Richtungen, sowohl nach oben als auch nach unten.
    Kommt dazu noch etwas in einem der nächsten Artikel?
    viele Grüße
    Andreas aus Katzenelnbogen

    1. Hallo Andreas! Johannes und ich arbeiten bereits an der Fortsetzung und genau darum soll es im nächsten Artikel gehen. Kleiner Spoiler: Der Set-Point lässt sich definitiv verändern, sowohl nach unten, als auch nach oben. Die exakten Mechanismen, die dahinter stecken müssen noch entschlüsselt und verstanden werden. Mittlerweile gibt uns die Forschung und Praxis jedoch recht gute Hinweise darauf, auf welche Weise das möglich ist.

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